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Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral

  • Autorenbild: chiarasue
    chiarasue
  • 13. Feb. 2022
  • 7 Min. Lesezeit

Wunderschönen Sonntag euch allen!


Wie geht’s euch? Ich muss sagen, dass ich es sehr genieße, einmal keinen vollen Terminkalender zu haben. Momentan bin ich damit beschäftigt, meine Bücher noch einmal der Reihe nach durchzulesen, um ja nichts zu vergessen, wenn ich mit dem fünften Teil beginne. Das ist einerseits superspannend, weil ich tatsächlich einige Szenen vergessen habe und andererseits auch ärgerlich, wenn ich wieder einmal einen Fehler entdecke. Aber ich muss da wohl nachsichtig mit meinem fünfzehnjährigen Ich sein. Dafür hat es fertiggebracht, dass ich mich heute noch fürchte, wenn ich eine gruselige Szene lese. Ja, das müsst ihr euch vorstellen. Ich habe diese Szene geschrieben, weiß genau, was passiert und trotzdem läuft mir immer noch eine Gänsehaut über den Rücken. Schon verwunderlich, was Wörter mit einem anstellen können…


Wie auch immer: Heute habe ich eine Anekdote für euch. Genauer gesagt eine „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ von Heinrich Böll (1963). Zu dieser Anekdote habe ich eine ganz besondere Verbindung, weil ich sie sage und schreibe dreimal zu einer Schularbeit in Deutsch bekommen habe. Zu drei verschiedenen Themen natürlich. Ich habe mich also schon gründlich damit auseinandergesetzt, sie analysiert, die Figuren charakterisiert, zusammengefasst und was weiß ich noch. Tatsächlich kann ich mich aber noch daran erinnern, wie erstaunt ich war, als ich sie das erste Mal gelesen habe. Der Text hat in mir etwas berührt und ein Licht aufgehen lassen. Bevor ich jetzt allerdings noch weiter darüber rede, lasse ich ihn euch selbst einmal lesen. Und um das klar festzuhalten: Dieser Text ist NICHT von mir, sondern von Heinrich Böll, dem Literaturnobelpreisträger.


Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral


In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer Himmel, grüne See mit friedlichen, schneeweißen Wellenkämmen, schwarzes Boot, rote Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick, und da aller guten Dinge drei sind und sicher sicher ist, ein drittes Mal: klick.

Das spröde, fast feindselige Geräusch weckt den dösenden Fischer, der sich schläfrig aufrichtet, schläfrig nach seiner Zigarettenschachtel angelt. Aber bevor er das Gesuchte gefunden, hat ihm der eifrige Tourist schon eine Schachtel vor die Nase gehalten, ihm die Zigarette nicht gerade in den Mund gesteckt, aber in die Hand gelegt, und ein viertes Klick, das des Feuerzeuges, schließt die eilfertige Höflichkeit ab. Durch jenes kaum messbare, nie nachweisbare Zuviel an flinker Höflichkeit, ist eine gereizte Verlegenheit entstanden, die der Tourist - der Landessprache mächtig - durch ein Gespräch zu überbrücken versucht.

»Sie werden heute einen guten Fang machen.« Kopfschütteln des Fischers.

»Aber man hat mir gesagt, dass das Wetter günstig ist.« Kopfnicken des Fischers.

»Sie werden also nicht ausfahren?« Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiss liegt ihm das Wohl des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen, nagt an ihm die Trauer über die verpasste Gelegenheit.

»Oh? Sie fühlen sich nicht wohl?« Endlich geht der Fischer von der Zeichensprache zum wahrhaft gesprochenen Wort über.

»Ich fühle mich großartig«, sagt er. »Ich habe mich nie besser gefühlt.« Er steht auf, reckt sich, als wollte er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. »Ich fühle mich phantastisch.«

Der Gesichtsausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht mehr unterdrücken, die ihm sozusagen das Herz zu sprengen droht: »Aber warum fahren Sie dann nicht aus?« Die Antwort kommt prompt und knapp. »Weil ich heute Morgen schon ausgefahren bin.«

»War der Fang gut?«

»Er war so gut, dass ich nicht noch einmal auszufahren brauche. Ich habe vier Hummer in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen.« Der Fischer, endlich erwacht, taut jetzt auf und klopft dem Touristen auf die Schulter. Dessen besorgter Gesichtsausdruck erscheint ihm als ein Ausdruck zwar unangebrachter, doch rührender Kümmernis.

»Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug!«, sagte er, um des Fremden Seele zu erleichtern.

»Rauchen Sie eine von meinen?«

»Ja, danke.«

Zigaretten werden in Münder gesteckt, ein fünftes Klick. Der Fremde setzt sich kopfschüttelnd auf den Bootsrand, legt die Kamera aus der Hand, denn er braucht jetzt beide Hände, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen.

»Ich will mich ja nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten mischen«, sagt er, »aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus, und Sie würden drei, vier, fünf, vielleicht sogar zehn Dutzend Makrelen fangen. Stellen Sie sich das mal vor!« Der Fischer nickt.

»Sie würden«, fährt der Tourist fort, »nicht nur heute, sondern morgen, übermorgen, ja, an jedem günstigen Tag zwei-, dreimal, vielleicht viermal ausfahren - wissen Sie, was geschehen würde?«

Der Fischer schüttelt den Kopf.

»Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten oder dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen - eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden...«, die Begeisterung verschlägt ihm für ein paar Augenblicke die Stimme, »Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber herumfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben, Sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren - und dann...« - wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache.

Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude schon fast verlustig, blickt er auf die friedlich hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter springen. »Und dann …«, sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache.

Der Fischer klopft ihm auf den Rücken wie einem Kind, das sich verschluckt hat.

»Was dann?«, fragt er leise.

»Dann«, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, »dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen - und auf das herrliche Meer blicken.«

»Aber das tu ich ja schon jetzt«, sagt der Fischer, »ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.«

Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von Dannen, denn früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, aber es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.



Ein toller Text, oder? Ich mag ihn auf jeden Fall sehr gerne, weil er mir immer wieder vor Augen führt, mein eigentliches Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Die Arbeit ist nicht alles im Leben. Sie ist der Weg. Aber anstatt stur diesen Weg entlangzuschreiten und immer nur das Ziel in der Zukunft im Blick zu haben, sollte man auch einmal innehalten und sich umsehen, schätzen, was man bisher schon geschafft hat. Kennt ihr dieses Gefühl, wenn ihr eine Wanderung unternehmt und euch irgendwann die Kraft ausgeht? Dann schaut ihr zurück auf den Weg, den ihr bereits hinter euch gebracht habt und denkt „Wenn ich es bis hierher geschafft habe, dann schaffe ich das letzte Stück auch noch.“. Dieses Gefühl sollten wir uns im Alltag auch öfter erlauben.


Denn oftmals kommt es vor, dass es auf unserer Karriereleiter kein Ende gibt. Wir klettern und klettern und der Gipfel kommt nicht näher. Wir starten ganz unten als Lehrling, werden zum vollwertigen Mitarbeiter, zum Chef eines Fachbereichs, zum Oberchef, zum Firmeninhaber, zum Konzernboss…. und es wird immer noch Titel geben, mit denen wir uns nicht schmücken können. So deprimierend das auch klingen mag: Es bleibt immer Luft nach oben.


Das heißt allerdings auch, dass wir nie ganz oben ankommen können. Wozu sich also anstrengen? Ganz einfach: Ehrgeiz und Motivation sind essentiell für das Leben in unserer Gesellschaft und natürlich. Der Mensch strebt danach, sich erfolgreich und glücklich zu fühlen. Er will etwas schaffen. Die Kunst ist, sich auch zu freuen, wenn man ein Ziel erreicht hat, und nicht sofort den Blick auf die nächste Anhöhe zu richten und zu vergessen, die Aussicht zu genießen.


Es gibt auch einige Kritiker von Bölls Parabel, auf die ich während einer Recherche gestoßen bin. Ihr Argument: Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Fischer jetzt und in der Zukunft, die der Tourist schildert. Der Fischer in der Gegenwart ist weiterhin abhängig von seinen Fängen in dieser Woche. In einer schlechten Zeit muss er um sein Überleben bangen, während sich der Fischer in der Prophezeiung des Touristen keine Sorgen um seine Zukunft machen muss. Er hat ausgesorgt. Auch diese Argumentation hat ihren wahren Kern, doch es stören mich ein paar Punkte daran:

  • Die Zukunft bleibt immer ungewiss. Die große Fischerei und das Restaurant des Fischers könnten ebenso bankrottgehen. Es könnte eine Umweltkatastrophe geben, die ihn in den Ruin treiben würde. Und wofür hat sich das pausenlose Arbeiten dann gelohnt?

  • Aus meiner Sicht ist die Absicht des Textes nicht, die Leute vom Arbeiten abzuhalten und sie aufzufordern, stattdessen das Leben zu genießen, sondern einmal von der Arbeit aufzuschauen. Der Fischer ist ja nicht faul. Am Morgen ist er bereits ausgefahren, war zufrieden mit seinem Fang und entschließt sich, eine wohlverdiente Pause einzulegen.

  • Der Tourist steht gewissermaßen für die Gier des Menschen. Das zeigt schon sein Fotoapparat, der versucht, Momente einzufangen, anstatt ihre Einzigartigkeit zu erleben. Er würde an diesem Tag am liebsten den ganzen Hafen ausfischen. Wir alle wissen, dass Überfischung ein großes Problem unserer Zeit ist. Würde der Fischer diesen Tag ausnutzen, würde er womöglich seine Fänge in der Zukunft gefährden.

Ich vermute, dass ein Grund, weshalb mich die Parabel schon so lange beschäftigt, ist, dass ich ein Mensch bin, der am liebsten alles sofort hinter sich bringt. Haben wir in der Schule Hausaufgaben bekommen, habe ich mich immer sofort nach dem Mittagessen hingesetzt und sie gemacht. Wenn etwas unerledigt bleibt, kann ich nicht gut schlafen. Das verbietet mir, schöne Momente einfach zu genießen, wenn es eigentlich etwas zu tun gäbe. Deshalb muss ich mich selbst immer wieder daran erinnern, dass ich nicht lebe, um alle Arbeit so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Im Himmel werde ich keinen Preis dafür bekommen, die meisten Aufgaben am schnellsten bewältigt zu haben.


Was sind eure Gedanken zur Parabel und den Dingen, die ich erwähnt habe? Ich wäre sehr gespannt, eure Meinung in den Kommentaren zu lesen. Geht es euch auch manchmal so wie mir oder besitzt ihr die bewundernswerte Fähigkeit, seelenruhig am Bett zu liegen und nichts zu tun, obwohl ein Stapel Arbeit auf euch warten würde?


Ich wünsche euch noch einen entspannten Tag und hoffe, wir hören uns auch nächste Woche wieder ;)



 
 
 

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