Das Ich, das dichtet
- chiarasue
- 16. Juli 2023
- 4 Min. Lesezeit
Hallo ihr Lieben!
Ja, ihr habt richtig gesehen. Ich melde mich auch einmal wieder aus meinem tiefen Schweigen der letzten Wochen. Was ich getrieben habe? Ach, dies und das. Ich habe ein paar Prüfungen hinter mich gebracht, viele Eiskugeln übereinander gestapelt und hin und wieder auch ein kleines bisschen durchgeatmet. Aber nur ganz kurz. Wie es mir geht? Eine schwierige Frage. Na ja, ich bin ja selbst schuld, dass ich sie mir gestellt habe. Grundsätzlich geht es mir gut. Ich befinde mich lediglich in einem Daueraktivzustand, in dem ich mir stets wünsche, einmal nichts zu tun zu haben, aber wenn ich nichts zu tun habe, suche ich mir eine Aufgabe, also da bin ich irgendwie gefangen in meinem eigenen Teufelskreis.
Eines der Projekte, die mich zurzeit beschäftigen, ist eine Arbeit, die ich für einen Kurs in der Uni schreiben muss. Darin muss ich ein Gedicht analysieren und es dreht sich alles um das darin vorkommende "Ich". Das Thema finde ich persönlich ganz interessant, weshalb ich mir gedacht habe, das könnte ich auch fernab der Arbeit noch einmal thematisieren. Weniger formell und mit meiner eigenen (laienhaften) Meinung.
Zuerst einmal müssen wir klären, wer dieses Ich überhaupt ist. Besser bekannt als lyrisches Ich versteckt sich dieses Ich eigentlich in jedem Gedicht. Manchmal wird es explizit erwähnt - das Pronomen "ich" oder das damit verbundene "mein", "mir", etc. sind konkret im Werk zu lesen. Manchmal gibt es aber nur Andeutungen, die auf ein lyrisches Ich hinweisen. Oftmals sind das Ortsadverbien oder andere Pronomen. Kommt zum Beispiel ein Du vor, wissen wir, dass es auch ein Ich geben muss. Denn wenn es ein Du gibt, muss es in Opposition zu diesem Du auch ein Ich geben. Wenn jemand angesprochen wird (das könnte auch eine Pflanze, eine Landschaft oder ein Gefühlszustand sein), dann muss es auch jemanden geben, der spricht. Und dieser Ansatz ist derjenige, der uns zu dem Grund führt, weshalb ein lyrisches Ich immer vorhanden ist. Jemand spricht das Gedicht und dieser Jemand ist das lyrische Ich. Aber wer ist das eigentlich?
Dies ist eine Frage, mit der sich Literaturwissenschaftler schon sehr lange beschäftigen. Liest man ein Gedicht, erfährt man im Prozess immer mehr über dieses lyrische Ich und den Kontext des Gedichts. Man wird gewissermaßen ins kalte Wasser geworfen, weiß weder wo noch wann noch wieso man ist und muss sich Informationen meist mühsam entschlüsseln. Diese Entschlüsselung nennen wir dann im Allgemeinen Interpretation und aus meiner Sicht ist sie das, was an Gedichten am meisten Spaß macht. Was soll ich sagen? Ich liebe eben die Herausforderung.
Allerdings kann man noch mehr über das lyrische Ich sagen. Die Lösung zu seiner Identität ist sehr simpel und grundsätzlich habe ich sie schon gegeben. Mancher könnte meinen, dabei handelt es sich eigentlich um den/die Autor*in, die ihre Einstellungen und Meinungen in Versen und Reimen verschlüsselt in die Welt hinausschickt. Das ist ein Fehler, dem man nicht verfallen sollte. Das lyrische Ich ist nicht gleich der Autor, genauso wenig wie ich Caecilia Darkata bin. Das lyrische Ich ist eine Rolle, die von demjenigen eingenommen wird, der das Gedicht spricht oder liest (was ja gewissermaßen einem Sprechen im Kopf gleichkommt). Wenn du also ein Gedicht liest, bist im Grunde immer du dieses Ich, das sich im Laufe der Lektüre selbst entdeckt.
Mir gefällt dieser Gedanke, der dich selbst sofort in die Welt des Gedichts mit einbindet und dich Teil seines Wunders sein lässt. Er hilft dir auch, den Sinn auf dich und deine eigene Lebenssituation zu beziehen. Gedichte können also nie aus der Mode fallen. Das ist auch ein Grund dafür, warum die Mehrheit der lyrischen Werke im Präsens verfasst sind. Sie kennen keine Zeit, kein Ablaufdatum. Ihr Wirken ist unabhängig von Konzepten wie Zeit und Raum und genau das macht sie derart magisch und mysteriös.
Jetzt stellt sich nur noch die Frage, was der/die Autor*in in dem Ganzen für eine Rolle spielt. Immerhin ist er/sie es, der das Gedicht geschrieben hat. Ein Gedicht, das sich plötzlich unabhängig macht und selbstständig durch die Welt spazieren will? Kontext- und verbindungslos? Ganz glücklich war ich mit dieser Erklärung auch nicht. In einem Artikel, den ich gelesen habe, wurde argumentiert, dass der/die Autor*in beim Schreiben selbst in die Rolle des lyrischen Ichs schlüpft. Immerhin spricht dieses in gebundener Sprache, was kein Mensch im alltäglichen Leben tun würde, nicht einmal der verbissenste Künstler. Mit dieser Idee kann ich leben. Wenn ich aber daran denke, was beim Schreiben mit mir passiert, sehe ich doch eine stärkere Verbindung zwischen Autor*in und lyrischem Ich als zwischen Leser*in und lyrischem Ich.
Meiner Meinung nach schreibt man - bewusst oder unbewusst - immer ein Stück weit aus seiner eigenen, persönlichen Perspektive, die sich dann natürlich in die Sicht des lyrischen Ichs mischt, ob man will oder nicht. Das lyrische Ich verkörpert also einen bestimmten Teil von demjenigen, der es geschrieben hat. Immerhin ist diese Person die Quelle des Gedichts. Irgendwie haben die Worte durch sie den Weg in die Welt gefunden und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dabei unverändert geblieben sind.
Auf jeden Fall finde ich diese Thematik des lyrischen Ichs unfassbar spannend und werde sicherlich nun öfter darauf achten, wie ich Gedichte selbst wahrnehme. Natürlich interessiert mich auch eure Meinung dazu. Habt ihr euch über das lyrische Ich und seine Identität schon einmal Gedanken gemacht? Wenn ja, was sagt ihr zu meiner These? Stimmt ihr mir zu oder meint ihr, dass der/die Autor*in und das lyrische Ich strikt voneinander getrennt werden müssen und im Allgemeinen keine Verbindung aufweisen?
Vielleicht sehe ich das Ganze auch etwas zu subjektiv, weil ich doch so gerne interpretiere und im Kontext der Epoche und des Autors/der Autorin ist das natürlich gleich um einiges einfacher (und lustiger). Wer weiß, möglicherweise schreibe ich euch nächste Woche ein Gedicht, um dem noch einmal genauer durch ein Selbstexperiment auf die Spur zu gehen. Jetzt wünsche ich euch auf jeden Fall noch einen wunderschönen Abend und alles, alles Gute! Bis zum nächsten Mal ;)

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