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Das mächtigste Gefühlsbecken der Welt

  • Autorenbild: chiarasue
    chiarasue
  • 17. Okt. 2021
  • 4 Min. Lesezeit

Habt ihr schon einmal darüber nachgedacht, wo die Menschen am emotionalsten sind? Ich meine damit keine Anlässe wie Beerdigungen oder Hochzeiten, sondern wirkliche Orte. Ein Platz, dessen Boden mit Tränen und Gelächter gleichermaßen getränkt ist. Ein Ort, an dem sich Emotionen sammeln wie Bienen in ihrem Stock. Noch dazu spreche ich von unterschiedlichen Gefühlen. Unterschiedliche Gefühle, die sich tagtäglich an diesem einen Ort zu einem einzigen Gewirr aus Emotionen sammeln, verknoten und anschließend in alle Richtungen wieder davonfließen.


Nimm dir bitte jetzt eine Minute Zeit und überlege, auf welchen Ort ich anspiele. Ja, ich fordere dich tatsächlich auf, deine Augen von diesen Zeilen zu lösen und deinen eigenen Kopf zu durchforsten. Genau jetzt!


Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass du diesen Ort nicht erraten hast. Denn es ist kein Ort, an dem wir bewusst sind. Es ist kein Aufenthaltsort. Es ist eine Station auf unserem Weg, kein Ziel. Zumindest in meinem Leben nimmt dieser Ort keinen großen Stellenwert ein, obwohl ich mich grundsätzlich sehr oft dort befinde. Vor allem jetzt, da ich durch mein Studium zwischen zwei Städten hin- und herpendeln muss. Und? Habt ihr jetzt eine Ahnung?


Ich spreche von Bahnhöfen. Genau. Stinknormalen Bahnhöfen. Die Orte, die wir durchqueren, um zu unserem Ziel zu gelangen. Die Orte, an denen wir vielleicht noch schnell ein Jausenweckerl kaufen, die wir aber nie als Einkaufsmöglichkeit betrachten würden. Die Orte, die uns schon in jeglichem Zustand gesehen haben: noch halb im Schlaf durch die Hallen taumelnd, nach einem langen Arbeitstag die Treppen hinunterschlurfend, im ärgsten Stress von Gleis zu Gleis hetzend, im entspannten Gespräch mit den SchulkollegInnen.


Der Bahnhof ist ein Ort, den ich kenne wie meine Westentasche, obwohl ich ihn noch nie wirklich so bewusst wahrgenommen habe. Der Bahnhof ist ein Ort, den ich eigentlich schnell wieder verlassen will, um einerseits zu meinem Ziel zu gelangen und andererseits die unruhige Atmosphäre der Reisenden hinter mir zu lassen. Ich habe viel über die Eigenschaften eines Bahnhofes nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass er eines ganz sicher nicht ist: ruhig.

Es gibt immer jemanden, der schnell einen Zug erwischen muss oder vergessen hat, sich ein Ticket zu besorgen. Zwischen den gelangweilt auf den Wartestühlen Sitzenden finden sich auch immer nervös mit den Zehen Wippende. Der Bahnhof ist voller Geschichten. Der Bahnhof ist voller Menschen, die ein Ziel verfolgen. Der Bahnhof ist voller Menschen, die in ihren Gedanken ganz woanders sind, weil der Bahnhof grundsätzlich nicht so spannend ist…denkt man zumindest.


In Wirklichkeit ist ein Bahnhof wohl eines der spannendsten Gebäude überhaupt. Nicht wegen seiner Architektur oder dem ausgeklügelten Gleissystem oder der Tatsache, dass man von dort aus überallhin kommt. Der Grund sind die Menschen und ihre Geschichten. Die Menschen, die den Bahnhof tagtäglich mit ihren Emotionen füllen, ohne überhaupt zu bemerken, dass sie ihre Spuren auf dem Boden hinterlassen. Der Bahnhof ist meistens ein Ort, den man alleine aufsucht. Es ist ein Ort, an dem man man selbst ist, ohne es zu merken. Es ist ein Ort, an dem man sich für niemanden verstellen muss. Es ist ein Ort, an dem man sich manchmal nicht mehr verstellen kann.


Der Bahnhof spiegelt vor allem auch zwei ganz gegensätzliche Emotionen: Trauer und Freude. Er reißt Menschen auseinander oder bringt sie wieder zusammen. Er lässt einsam am Bahnsteig winkende Eltern, Freunde und Verwandte mit Tränen in den Augen zurück. Er beobachtet Tag für Tag, wie sich Liebende das letzte Mal für eine lange Zeit in den Armen liegen. Er fängt ihre Tränen auf. Doch genauso kann er das lang ersehnte Wiedersehen mit sich bringen. Er sieht, wie sich lange Getrennte endlich wieder vereinen. Er wird Zeuge, wie sich Familien überglücklich in die Arme fallen und Kinder vor Freude durch die Luft gewirbelt werden. Vielleicht muss er auch in diesen Momenten die ein oder andere Tränen auffangen.


Es sind nicht nur die Wartenden, die die Emotionen in den Reisenden auslösen. Ebenso ist der Bahnhof selbst dafür verantwortlich. Denn der Bahnhof ist der erste Ort, an dem du einen anderen Boden betrittst. Seine Luft kann nach Fremde schmecken. Er ist die erste Verheißung der Zukunft, die du im Begriff bist zu beginnen. Gleichzeitig birgt er einen Hauch der Heimat, die du so vermisst hast. Es ist ein Ort, den du kennst. Es ist nicht unbedingt der Ort, den du vermisst hast, aber dennoch fühlt er sich nach Zuhause an, sobald du aus dem Zug steigst.


In Bahnhof vereinen sich Anfang und Ende, Alltäglichkeit mit Fremde, Trennung und Wiedersehen zu einem gigantischen Herz aus eiligen Schritten, dem Rauschen der Züge und der monotonen Durchsagenstimme, die so viel mehr ankündigen kann als lediglich die Einfahrt einer Bahn.


Heute habe ich in aller Deutlichkeit realisiert, was Bahnhöfe wirklich sind. Zumindest habe ich es versucht. Vielleicht können wir nie ganz begreifen, was die großen Hallen und blauen Anzeigetafeln wirklich ausmacht. Der springende Punkt ist, dass ich Bahnhöfe eigentlich nie gemocht habe. Sie sind nicht gerade gemütlich und entweder mit Stress oder langem Warten verbunden. Sie sind kein freundlicher Ort. Trotz allem bergen sie einen Zauber. Und wenn du das nächste Mal am Gleis stehst und auf dein Handy starrst, kannst du ja einmal versuchen, den Kopf zu heben und ihn zu sehen. Oder viel mehr zu spüren. Und vielleicht bist du dann ja genauso fasziniert wie ich und verstehst, was ich meine, wenn ich von dem Ort mit den meisten Emotionen der Welt spreche.


Wir hören uns nächste Woche! Ich wünsche euch eine wunderschöne Zeit bis dahin ;)




 
 
 

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