top of page

Keine Zeit

  • Autorenbild: chiarasue
    chiarasue
  • 27. März 2022
  • 5 Min. Lesezeit

Hallihallo!

Und schon sind wir Ende März angekommen. Die Zeit…das ist etwas Mysteriöses, ich sag’s euch. Vielleicht ist sie einer der magischsten Faktoren unseres Lebens, den wir tagtäglich als selbstverständlich hinnehmen, ohne ihn je tatsächlich entschlüsselt zu haben. Ich weiß gar nicht, ob es so etwas wie Zeitforscher gibt… wäre doch sicherlich interessant sich damit auseinanderzusetzen, oder? Andererseits ist Zeit oder besser gesagt Zeitempfinden zu einem so hohen Grad subjektiv, dass ich bezweifle, dass eine wissenschaftliche Untersuchung mit objektiver Aussage überhaupt möglich ist.

So, eigentlich wollte ich heute über etwas ganz anderes schreiben, aber jetzt hat mich das Thema nicht mehr losgelassen, ich habe recherchiert und werde mich etwas in Spontanität üben, indem wir heute über Zeit sprechen. Ich hoffe, das ist in eurem Sinne.


Ich habe herausgefunden, dass es tatsächlich Zeitforscher gibt. Sofort sind mir überall zwei Namen entgegengesprungen: Jonas und Karlheinz Geißler. Ich habe nirgends einen Hinweis darauf gefunden, dass sie verwandt wären, aber es wäre auch ein großer Zufall, wären sie es nicht…oder? Na, wie auch immer, darum geht’s eigentlich nicht. Die meisten der Informationen, die jetzt folgen, habe ich aus zwei Interviews, die ich ganz am Ende des Beitrags zitiert habe.


Etwas, was ich mir selbst bereits oft gedacht habe, ist, dass sich unser Leben permanent beschleunigt. Der Grund darin liegt in den zahlreichen Angeboten und Möglichkeiten, die uns tagtäglich begegnen. In der heutigen Zeit gibt es immer etwas, was man machen könnte. Also bekommt man ein schlechtes Gewissen, wenn man nichts macht. Früher war man wohl einfach fertig, wenn man eine Arbeit oder einen Ausflug beendet hat. Heute gibt es immer noch etwas anderes, was man machen könnte. Interessanterweise hatte ich gestern mit meiner Mutter ein ähnliches Gespräch. Diese befand sich in Quarantäne zuhause und plötzlich erschien ihr der Tag, den sie normalerweise als sehr gefüllt erlebte, unglaublich leer. In der Quarantäne werden uns eine Unzahl an Möglichkeiten genommen. Wir dürfen das Haus nicht verlassen, keinen Kontakt zu Freunden haben. Und dann zeigt sie sich wieder, die Zeit. Spannend, oder?


Durch die permanente Beschäftigung, die wir uns angewöhnt haben, schrumpft unsere Aufmerksamkeitsspanne drastisch, weil das Gehirn sich an die kurzen Sequenzen, während derer wir uns mit etwas beschäftigen, anpasst. Eine Sache nach der anderen wird in einer Höllengeschwindigkeit abgearbeitet und wenn dann einmal etwas länger dauert, haben wir keine Kraft dafür. Auch dieses Phänomen kenne ich von mir selbst. In jeder Lücke in meinem Terminplan versuche ich, etwas hineinzupressen, damit das Nichtstun nicht zu lange anhält. Langeweile ist eine Kunst geworden.


Ich bin eine Person, die nicht meditieren kann. Wenn wir damals im Religionsunterricht die Polster ausgepackt haben, wollte ich mich am liebsten irgendwo verkriechen und lesen. Warum? Nichtstun macht mich fertig, weil ich es nicht kann. Ehrlich. Lacht nur, ich kann das verstehen. Wer kann schon nicht nichts tun? Das Problem ist, dass ich zwar meinen Körper stillhalten, aber nicht meinen Kopf ausschalten kann. Während also die anderen am Boden lagen und in ihre Traumwelten abschweiften, plante ich den Rest des Tages, der Woche, des Monats, je nachdem, wie lange die Meditation dauerte. Beim Meditieren organisiere ich also und bin gewissermaßen gezwungen, mich mit meinen damit verbundenen Sorgen zu beschäftigen. Nun ist es verständlicher, warum ich lieber in ein Buch abtauche, oder?


Interessant fand ich auch, dass Geißler anführte, dass „keine Zeit zu haben“ in unserer Zeit als Statussymbol betrachtet wird. Und ich musste feststellen, dass er Recht hat. Wenn jemand immer Zeit hat, interpretieren wird das als Faulheit. Wer hat schon immer Zeit? Jemand, der nicht arbeitet, keine Hobbys praktiziert und nur daheim ist. Wenn man sich mit jemandem treffen will, traut man sich beinahe nicht zu sagen, dass man Zeit hat. Was wird der andere denken? Man schämt sich schon fast, Zeit zu haben.


Außer man ist auf Urlaub. Der Urlaub ist die optimale Begründung, einmal nichts tun zu dürfen. Dennoch will man die Zeit im Urlaub aber nutzen. Schließlich ist man am Meer, auf einem Berg oder in einer möglichkeitsreichen Stadt, wo man nicht alle Tage die Chance hat, etwas zu tun. Vor allem ich tendiere dazu, unter Urlaubsstress zu leiden. Im Urlaub bin ich irgendwo, wo ich noch nie war. Es gibt so viel zu sehen und entdecken, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Es gibt also selbst in der Zeit des Jahres, die man extra dafür verwenden will, Zeit zu haben, einen hohen Unternehmungsdruck.


„Aber die Zeiten, die im Leben zählen, sind die Zeiten, die nicht gezählt werden.“


Dieses Zitat stamm ebenfalls von Karlheinz Geißler und hat mich stark beeindruckt. Kennt ihr dieses Gefühl, wenn ihr einen superschönen Tag hinter euch habt und euch auffällt, dass ihr weder sonderlich oft aufs Handy noch auf die Uhr geschaut habt? Weil wir, wenn wir etwas wirklich im Jetzt genießen, nicht wissen müssen, wie spät es ist. Die schönsten Momente finden wir in der Gegenwart und wenn wir ehrlich sind, schauen wir in den seltensten Fällen auf die Uhr, um in der Gegenwart zu sein. Stattdessen fragen wir uns „Komme ich zu spät?“, „Muss ich mich schon auf den Weg machen?“ oder „Wie lange dauert das bloß noch?“.


Geißler erwähnt ebenfalls, dass der Mensch Übergänge zwischen seinen Tätigkeiten braucht. Mir ist das vor allem während des ersten Lockdowns, als wir aufs Homeschooling umgestiegen sind, stark aufgefallen. Auf einmal ist der Schulweg weggefallen und mein Körper hat es nicht geschafft, sich vom Bett sogleich auf die Schule umzustellen. Die Zeit dazwischen ist wertvoller, als wir denken. Dass ich nicht mehr gegen meine Augenlider ankämpfen musste, habe ich einem Trick zu verdanken. Um meinem Körper einen Schulweg vorzugaukeln, bin ich trotz Lockdown früh aufgestanden und habe einen Spaziergang gemacht. Wenn es dann auch noch unter 10 Grad kalt ist, werdet ihr ganz sicher wach, das könnt ihr mir glauben :)


Schlussendlich möchte ich noch auf eine Gefahr des konstanten Zeitmangels aufmerksam machen. Unser Körper ist sehr schlau und gewöhnt sich irgendwann an alles, auch den permanenten Stress. Wenn wir Tag für Tag nur von einem Termin zum nächsten hetzen, kommt uns das nach einer gewissen Zeit nicht mehr stressig vor, es ist normal. Unterbewusst baut sich aber ein konstanter Druck auf, der uns ruhelos von einem Ort zum nächsten scheucht und dieser macht dem Körper sehr wohl zu schaffen. Daraus resultieren dann Burn-Outs, psychische Zusammenbrüche oder andere Schäden.


Um dieser Gefahr zu entgehen, müssen wir immer wieder innehalten und uns selbst Zeit geben, auch wenn unser Körper nicht mehr bewusst danach verlangt. Zeit ist etwas, das uns geschenkt wurde und nicht etwas, das wir zwanghaft irgendwie verbrauchen müssen.


„Zuerst muss man begreifen und akzeptieren, dass wir die Zeit nicht haben, sondern sind.“


Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieser Aussage zu hundert Prozent zustimme, aber sie hat definitiv einen wahren Kern. Wir leben durch Zeit. Zeit ist ein Teil von uns, ohne den wir nicht existieren könnten. Oder existiert Zeit am Ende selbst nicht? Ist sie ein von Menschen entworfenes Konstrukt? Darüber könnte ich jetzt noch stundenlang weiterphilosophieren, aber für heute habe ich euch, denke ich, schon genug gefordert.


Vielen Dank, dass ihr euch die Zeit genommen habt, diesen Beitrag zu lesen und ich hoffe, dass wir uns nächste Woche wieder hören! ;)




(Kuhn, Gabriele (2019): „,Zeitforscher‘…so was gibt’s? Was macht denn der? Interview mit Jonas Geißler“. Carpe Diem. Online unter: https://timesandmore.com/zeitforscher-so-was-gibts-was-macht-denn-der/ (14.03.))

(Breit, Lisa (2017): „Zeitforscher: ,Man kann sich auch über das Lassen selbst bestätigen‘". Interview mit Karlheinz Geißler. Standard. Online unter: https://www.derstandard.at/story/2000065410711/zeitforscher-man-kann-sich-auch-ueber-das-lassen-bestaetigen (14.03.))

 
 
 

Comments


©2020 Chiara Sue Seidl. Erstellt mit Wix.com

bottom of page